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Volunteers übernehmen auch in schwierigen Zeiten Verantwortung

[The original post was written in German. For the English translation, click here]


Der März 2020 war höchstwahrscheinlich die herausfordernsde Zeit, um als Volunteer in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln zu arbeiten. Meldungen in den Nachrichten über:

  • eskalierende Proteste der Bewohner*innen der griechischen Inseln wegen dem Bau neuer Flüchtlingslager

  • die eskalierende Situation an der türkisch-griechischen Landgrenze

  • die gewalttätigen Übergriffe von Rechtsradikalen auf Geflüchtete und Mitarbeiter*innen von NGOs, z.B. auf Lesbos

  • verheerende Feuer in Einrichtungen von NGOs

  • die aufkommende Corona-Pandemie

machten die Situation sehr unübersichtlich und dem ersten Anschein nach auch gefährlich. Ich hatte die Planungen für meinen Einsatz als Volunteer für "Movement on the ground" (MOTG) auf Samos im Januar 2020 begonnen und hatte natürlich nie mit einer solchen Zuspitzung der Lage gerechnet. Um anderen Menschen Mut zu machen, sich trotz einer schwierigen Situation als Volunteer auf den ägäischen Inseln einzusetzen, möchte ich hier über meine Erfahrungen berichten. Außerdem möchte ich zeigen, wie wichtig die Arbeit von NGOs und Volunteers, gerade in diesen schwierigen Zeiten, auf den ägäischen Inseln ist. Und ich möchte zeigen, wie groß der Anteil der Aufgaben ist, die von NGOs übernommen werden und eigentlich durch die EU geleistet und finanziert werden müssten. Die Errichtung der Lager auf den Inseln ist nämlich keineswegs eine zufällige Entwicklung sondern wurde so von der EU geplant und gewollt.

Vorbereitung

Da die Zeit als Volunteer physisch und psychisch sehr anstrengend sein kann, ist eine gute Vorbereitung unerlässlich. Durch eine gute Vorbereitung kann man schon sehr früh dafür sorgen, den richtigen Einsatzort und eine passende Aufgabe für sich zu finden. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit auch in belastenden Situationen zurechtzukommen. Zu MOTG bin ich über "Indigo Volunteers" gekommen. Eine Organisation aus London, die Interessierte an NGOs vermittelt. Also quasi eine Stellenvermittlung für Freiwillige die sich durch Spenden finanziert. Große Sicherheit hat mir dann ein erstes Telefonat mit einer Koordinatorin von MOTG gegeben. Von ihr habe ich einen gute Überblick über die Situation bekommen und bekam Antworten auf all meine Fragen. Nachdem ich mich entschieden hatte für MOTG nach Samos zu gehen bekam ich dann noch weitere Dokumente mit Hinweisen und Erklärungen für den Einsatz als Freiwilliger. Das war sehr hilfreich und unterscheidet wahrscheinlich auch die guten von den schlechten NGOs.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, vorab Informationen zu recherchieren, um gut vorbereitet zu sein. Fragen die man sich stellen sollte sind z.B.: Wie ist die Situation in dem Land, auf der Insel, in der Stadt in die ich gehe? Wie ist die aktuelle politische Situation in dem Land in das ich gehe und in den Ländern aus denen Geflüchtete kommen (z.B. Türkei, Syrien, Afghanistan)? Wie ist die aktuelle Situation in dem Lager in dem ich arbeiten werde?

In meiner Situation Ende Februar/Anfang März war die Recherche, aufgrund der vielen Ereignisse, sehr anstrengend. Sie war aber auch sehr hilfreich, denn dadurch konnte ich abschätzen ob die Gefahr für mich relevant oder im Notfall zu bewältigen war. Die Ausschreitungen von Rechtsradikalen z.B. waren auf Samos lange nicht so schlimm wie auf Lesbos (aber auch auf Samos kam es zu vereinzelten Übergriffen). Die Lage im Lager auf Samos war Ende Februar, so wie schon in den Monaten davor, sehr schlimm aber stabil. Und die eskalierenden Proteste der griechischen Inselnbewohner*innen ließen Anfang März langsam nach.

Informationen habe ich z.B. über MOTG bekommen. Es gab beispielsweise Check-Fragen um eine Corona-Infektion auszuschließen und Informationen dazu, wie man mit belastenden Situationen während und nach dem Einsatz umgehen kann. Gute Informationsquellen sind außerdem die Facebookseiten von anderen NGOs (z.B. Samos Volunteers) und englischsprachige Seiten von griechischen Medien.

Bis zu meinem Abflugtag hatte ich aufgrund der guten Vorbereitung zu keiner Zeit Zweifel daran, dass ich ein Risiko übersehen oder falsch eingeschätzt hatte. Beschäftigt hat mich dann aber, dass es in Europa im Jahr 2020 überhaupt notwendig war sich die genannten Fragen stellen zu müssen. Und das alles, weil die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht in der Lage oder Willens sind, diese unmenschliche Situation auf den griechischen Inseln zu verhindern oder zu beenden.

Situation auf Samos im März 2020

Aufgrund der Corona-Situation konnten Anfang März viele NGOs auf Samos nur noch sehr eingeschränkt arbeiten. In der zweiten März-Woche wurden in Griechenland die Schulen geschlossen und damit auch ein Großteil der Angebote für die Menschen aus dem Camp. Es durfte kein Unterricht und keine Angebote für Kinder mehr stattfinden. Im Camp bzw. dem inoffiziellen Teil, der "Jungle" genannt wird machte sich das sofort in einer angespannten Stimmung bemerkbar – besonders bei den Kindern.


Die hygienische Situation ist katastrophal

Mit MOTG habe ich mich in meiner Zeit auf Samos hauptsächlich um die Müllentsorgung und die Versorgung mit Desinfektionsspendern im Camp beschäftigt. Gerade im Bereich der Müllentsorgung wird einem die dramatische Situation in den Lagern bewusst. Viel zu oft stießen wir bei Clean-ups auf "wilde" Toiletten, da die Anzahl der vorhanden WCs viel zu gering ist. Zusätzlich sind die vorhandenen WCs oft sehr schmutzig, da diese von vielen hunderten oder tausenden Menschen gleichzeitig genutzt werden. Zu sehen, wie ein kleines Mädchen am Morgen eine saubere Toilette sucht und verzweifelt die nächste Klotür öffnet, in der Hoffnung, dass dieses Klo endlich ein sauberes ist, bricht einem das Herz. Ich habe mir vor Ort oft die Frage gestellt wie die verantwortlichen Politiker*innen so etwas zulassen können!

Was viele Menschen sich nicht vorstellen können ist, dass die Müllentsorgung im Jungle von Samos komplett durch Volunteers, Residents (Bewohner*innen des Camps) und Spenden geleistet wird. Oft wurde ich gefragt, warum die Geflüchteten ihren Müll nicht selbst entsorgen können. Diese Frage kann sich eigentlich jeder selbst beantworten, der weiß wie die Straßen aussehen, wenn die Müllabfuhr z.B. in Deutschland streikt.

Was passiert wenn der Müll nicht entsorgt wird konnte ich im Camp von Samos selbst erfahren. Der Müll zieht die Ratten an, durch zerissene Müllsäcke liegen überall Glasscherben und Rasierklingen und das Wasser der wenigen Wasserstellen läuft den Berg hinuntern, durch die Müllberge hindurch. Dazu kommen dann noch die "wilden" Toiletten. In dieser höchst giftigen Mischung spielen dann die Kinder, teilweise barfuss.

Corona ist eine tödliche Gefahr für die Menschen in den Lagern

Oft wird darüber berichtet, dass ein Ausbruch des Corona-Virus in den Lagern auf den ägäischen Inseln sehr schlimme Folgen haben würde und es zu vielen Toten käme. Ich bin kein Arzt oder Epidemiologe. Festhalten kann ich jedoch, dass fast keine der vorgeschlagenen Maßnahmen, zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus, im Lager auf Samos eingehalten werden kann. Social-Distancing ist absolut nicht möglich. Für fast alle Dinge des täglichen Lebens müssen die Menschen dort in langen Schlangen z.B. auf die Ausgabe von Essen warten. Von Ärzte-ohne-Grenzen (MSF) wurden Wasserstellen eingerichtet, diese reichen aber auf keinen Fall für die nötige Handhygiene aus. Da die Menschen dort in ungeheizten Zelten leben sind viele vorerkrankt und Kinder bekommen nötige Schutzimpfungen vor anderen Krankheiten nicht.

Im Camp auf Samos leben fast 7000 Menschen, davon rund 6000 im Jungle, außerhalb des offziellen EU-Hotspot Lagers. Die einzige Versorgung, die Menschen im Jungle offiziell bekommen ist das sehr schlechte, in Plastik eingeschweißte, Essen und Wasser in Flaschen. Die Versorgung geschieht ansonsten nur durch NGOs, Volunteers und Spenden. WCs, Wassertanks und -zapfstellen, Handdesinfektionsspender, Müllsäcke und Müllabfuhr würde es ohne NGOs im Jungle nicht geben.

Volunteers und NGOs zeigen wie europäische Solidarität funktioniert

Auch die Versorgung der geflüchteten Menschen außerhalb des Camps z.B. mit einer kleinen Wäscherei, einem Restaurant für Menschen die sich nicht stundenlang für Essen anstellen können und die vielen anderen Angebote basieren auf Spenden und dem Einsatz von Freiwilligen. Es ist sehr schön zu sehen, wie sich Menschen für andere Menschen einsetzen und wie auch die Bewohner*innen des Camps eingebunden werden um Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und Ihnen ein ansatzweise würdevolles Leben dort zu ermöglichen. Auf der anderen Seite macht es mich sehr traurig und wütend, dass es im Jahr 2020 in Europa nicht möglich ist, geflüchtete Menschen würdevoll unterzubringen und zu behandeln. Und, dass es hunderten und tausenden Freiwilligen und Spenden Bedarf, damit die Menschen in den Lagern mit dem nötigsten versorgt werden. Es steht außer Zweifel, dass die EU und die Regierungen der Mitgliedsstaaten die Lager sofort auflösen und die Menschen auf die EU-Länder verteilen könnten. So viele Volunteers aus verschiedensten europäischen Ländern zeigen auf den griechischen Inseln jeden Tag, wie europäische Solidarität funktioniert! Warum funktioniert das nicht auf Regierungsebene?

Wir wollen nicht länger dabei zusehen, wie die Situation immer schlimmer und lebensbedrohlicher für die Menschen in den Lagern wird und schreien aus Samos, Chios, Lesbos und all den anderen Lagern: "Europe must act!"

 

Über den Autor: Christian lebt in Pforzheim und arbeitet hauptberuflich als Ingenieur. Schon seit einigen Jahren arbeitet er vor Ort zusammen mit geflüchteten Menschen und engagiert sich bei der lokalen Seebrücken-Aktionsgruppe und dem Antirassistischen Netzwerk Baden-Württemberg. Nachdem sich die Situation in den Lagern auf den ägäischen Inseln immer mehr zugespitzt hatte, entschied er sich Anfang 2020 mit Movement on the ground auf Samos zu arbeiten. "Gerade im reichen Deutschland haben wir eine verdammte Verantwortung uns für einen würdevollen und menschlichen Umgang mit Geflüchteten Menschen einzusetzen. Wir müssen dazu immer wieder den Finger in die Wunde legen!", so Christian. Er ist ebenfalls Mitglied von Europe Must Act – Germany. Weitere Infos findet ihr auch in Christians Blog: chris4motg.blogspot.com

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